Echtzeit
Gibt es Falschzeit? Kann Zeit unecht sein? Ich kenne schwierige und gute Zeiten aus eigenem Erleben, vom Hörensagen finstere und erleuchtete, habe an Hochzeiten teilgenommen und war schon mal irgendwo zur Unzeit aufgetaucht. Gezeiten bewundere ich, auch Zeitläufte und Achsenzeiten. Freizeit und Notzeit sind mir bekannt. Aber Falschzeit?
Kulturschaffende und Theaterleute freuten sich schon, höre ich am Kulturradio, wenn sie nach dem lockdown wieder in Echtzeit auftreten könnten. Das tönt so, als wäre Zeit, die nicht Echtzeit ist, ein fake. Falsche Zeit, weil sie nicht nach unserem Willen läuft?
Was mich freut, ist die Erfahrung, wie wertvoll analoge Zeit ist: Virtuelle Zeit ist uns wesensfremd. Da geht alles Beiläufige verloren. Kaffeeduft und Schnapsfahne fehlen. Schweissperlen auf der Stirn sind kaum zu erkennen, nervöse Füsse unterm Tisch kaum zu hören. Niemand flüstert beim Largo oder knackt Popcorn beim Thriller. Analogia entis ist uns wesentlich: sich im Sein hingezogen und angemessen fühlen, Entsprechung und Übereinstimmung zu erfahren. In der frühen Kirche konnten sie sich blutig streiten wegen der Frage, ob Jesus Gott wesensähnlich war oder wesensgleich. Virtuelles kann sehr nützlich sein, kein Zweifel, fürs Menschsein bleibt es aber unwesentlich. Wie es kein richtiges Leben im falschen gibt, gibt es, glaube ich, keine wesenhafte Zeit in der unwesentlichen. Bleierne Zeit, wenn analog wenig möglich ist, vor allem, wenn man nichts verdient! Aber auch sie ist echte Lebenszeit!
Im griechischen ana steckt immer eine Bewegung hinan und nach oben. So erfahre ich auch die bleierne Zeit als Echtzeit, nämlich je länger sie währt desto praller gefüllt mit Hoffnung, aneinander mal wieder hinaufsehen zu dürfen, von Angesicht zu Angesicht, eigenes Sein an anderem Sein aufzustellen, Mensch an Gott. Wir werden sein wie Träumende.
MK